Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung vom späten 12. Jahrhundert bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts

Zusammenfassung

 

Die Lehre vom wirkungsvollen Sprechen und Schreiben, die Rhetorik, stellt seit der Antike (vgl. Pseudo-Cicero, 'Rhetorica ad Herennium' IV, 49 62; Cicero, 'De inventione', I, 30 49, und Quintilian, 'Institutio oratoria' V, 11) Möglichkeiten bereit, die Überzeugung eines Gegenübers mit Argumenten zu beeinflussen. Eine dieser Möglichkeiten war und ist, einen dem Zuhörer vertrauten Sachverhalts zu verwenden, das Exemplum, von dem auf den gegebenen Fall geschlossen werden konnte oder sollte. In meiner Dissertation wird der Exempelgebrauch in Sangspruchstrophen und -liedern zwischen ca. 1170 und 1320 untersucht.

Die Sangspruchdichtung stellt neben dem Minnesang die zweite Hauptgattung deutscher Lyrik der Zeit dar. Sangsprüche sind gesungene Strophen, die nahezu alle Themen – außer der Liebe – zum Gegenstand haben konnten; so wurden neben der geistlichen Belehrung aller Art Rat, Lob, Schelte, also Herrenlehren, sowie Tugend- und Standeslehren thematisiert, oder es fanden polemische Auseinandersetzungen zwischen Dichtern solcher Strophen, die gegenseitig an einem Hof konkurrierten, über die ausgeübte Kunst statt. Verfasser solcher Sangspruchstrophen waren Berufsdichter, die von Hof zu Hof zogen, um mit ihrer dichterischen Kunst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Sangspruchdichter waren darauf angewiesen, auf ihre adligen Hörerinnen und Hörer einen guten Eindruck zu machen oder sie zu überzeugen. Eines der von der Rhetorik empfohlenen Mittel, um diese Wirkung zu erzielen, war der Gebrauch einer narratio oder descriptio, welche das Publikum entweder bereits kannte, oder die ihm zwar neu war, aber unmittelbar einleuchtete – der Gebrauch von Exempeln. Dies ist der Hintergrund meiner Dissertation.

Die neueste Arbeit zu diesem Thema ist Joachim T ESCHNER s Bonner Dissertation von 1970. In den seither vergangenen 35 Jahren haben sich die Voraussetzungen und die Betrachtungsweise in der Erforschung der Sangsprüche verändert. Dies hängt insbesondere mit dem Erscheinen der Bände 3-5 des ‚Repertoriums der Sangsprüche und Meisterlieder' zusammen, die fast alle Werke dieser Gattung bis zum ausgehenden Mittelalter enthalten. Anders als meine Vorgänger habe ich als oberstes Gliederungskriterium die Frage gewählt, wie das Exempel und seine Anwendung auf die Strophe verteilt sind.

Nach einem Blick auf die Forschungsgeschichte versuche ich in einem ersten Kapitel anhand einschlägiger Literatur die Bezeichnungen Fabel, Exempel, bîspel u.a. begrifflich zu klären, und definiere daraufhin das Ziel meiner Arbeit. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil die Grenzen zwischen dem Exempel und den benachbarten Textsorten fließend sind und demzufolge die Abgrenzung dessen, was Exempelstrophen sind, gelegentlich nicht eindeutig möglich ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn man auf das Kriterium der Narrativität bzw. Deskriptivität in bestimmten Fällen verzichtet. Doch eben dies schien mir notwendig, denn auch Vergleiche in kurzer Form oder Sprichwörter kommen in einer Strophe als Beispiele häufig vor, ohne im Strophenganzen so bestimmend zu sein wie narrative oder deskriptive Exempel. Ebenso problematisch ist die Einbeziehung der Strophen, in denen ein Beispiel angeführt wird, die Auslegung aber unterblieb. Dies kann auftreten, weil die Moral, die hinter dem Beispiel steht, offensichtlich bzw. weit bekannt war, so dass das Publikum sie selbst leisten konnte, dann waren auch kurze Strophen lang genug. Einen weiteren möglichen Grund konnte eine in der Strophen enthaltene Kritik an hohen Herren darstellen, die aber der Vortragende nicht offen aussprechen konnte. In den Exempelliedern ohne Auslegung ist die Moral oder die Nutzanwendung zwar nicht im Text ausgedrückt, sie ist aber bereits vorhanden oder sie entsteht in der Vortragssituation.

Im zweiten Kapitel habe ich auf dieser Grundlage das Material für meine Untersuchung zusammengestellt. Nach einer Diskussion mehrerer Anordnungsvorschläge folge ich dem jüngsten, den Helmut TERVOOREN 1995 vorgelegt hat, und setze fünf Zeitabschnitte an. Eine wirklich chronologische Ordnung ist allerdings nicht möglich, weil wir von der Biographie der meisten Sangspruchdichter so gut wie nichts wissen. Innerhalb dieser Abschnitte sind die Autoren daher alphabetisch gereiht; Überschneidungen scheinen unvermeidlich. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine tabellarische Übersicht aller mehr als 160 berücksichtigten Texte.

In einem dritten Kapitel wird das Material so geordnet präsentiert: Am Anfang steht der klassische Typ a: Auf ein Exempel folgt die Auslegung. Hier sind zwei Untertypen zu unterscheiden, denn mehrheitlich ist das Exempel zwar erzählend (a 1 ), es kann sich aber stattdessen auch um eine Beschreibung handeln (a 2 ). Zwei weitere Formen fanden weit weniger häufige Verwendung, nämlich Typ b: Das Exempel folgt auf eine sentenziöse Einleitung und die eigentliche Auslegung steht am Abschluss, und Typ c, die Umkehrung des genannten Haupttyps: für eine These wird erst in der zweiten Hälfte oder am Ende der Strophe ein Beispiel genannt. Dieses Kapitel endet mit dem Typus der Exempelstrophen ohne Auslegung, die wiederum größeren Raum einnehmen; die Zahl der Belege ist beträchtlich.

Es konnten unmöglich alle Texte aufgeführt werden. So werden gelegentlich Strophen kurz charakterisiert, um deutlich machen zu können, warum sie ausgeschlossen wurden und wie die Randbereiche des bearbeiteten Feldes im Einzelfall aussehen. Die von mir getroffene Auswahl an Strophen, die eingehend besprochen wurden, ist hoffentlich angemessen.

Im Laufe der Arbeit haben sich zwei Sondertypen herausgestellt, für die es angebracht erschien, sie für sich zu besprechen. Es sind dies die Ich-Parabeln, bei denen im Exempel ein zwischen dem Exempel im eigentlichen Sinne und den Rezipienten vermittelndes Ich steht, wobei es sich meist um persönliche Klagen des Dichters handelt, und die Verwendung eines Traums als Exempel, wobei es zur zweifachen Auslegung von Träumen kommen konnte (z.B. beim Marner). Diese beiden Randerscheinungen bilden den Abschluss der Untersuchung.

 

Statistisch gesehen haben der Haupttyp a: ‚Auf ein Exempel folgt die Auslegung' und der Typ: ‚Exempel ohne Auslegung' den größeren Anteil an dem gesamten Corpus, das ich zusammenstellte. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass bei dem statistischen Bild die Überlieferung eine Rolle spielt, nämlich dadurch, dass z.B. besonders viele Exempellieder des seltener überlieferten Typs b oder Typs c verloren gegangen sein können.

Eine weitere Möglichkeit, die die Statistik auch beeinflussen kann, ist die unvollständige Überlieferung einer Strophe, so z.B. eine Strophe Rumelants von Sachsen. Dort hat dieser ‚Verlasse das Land' eine Lehre mit dem Bild einer Kerze ( blas ) illustriert. Der Anfang dieser Strophe fehlt. Der erste erhaltene Vers 5 setzt mitten in der Bildbeschreibung ein, die bis zum letzten Strophenabschnitt (zum Strophenaufbau s. u.) reicht. Eine kurze Moral ist am Schluss der Strophe vorhanden (v. 13f .). Die Lehre, die der Dichter damit geben wollte, ist ziemlich eindeutig: Einigkeit macht stark. Es ist durchaus möglich, dass in den fehlenden vier Anfangzeilen eine These steht, die im Folgenden durch das Beispiel illustriert wird. In diesem Fall gehört diese Exempelstrophe zu dem Typ b; ansonsten ist sie dem Typ a zuzurechnen.

 

Die Beobachtungen in der vorliegenden Untersuchung führen zu folgenden Ergebnissen:

1. Die Bezeichnung Exempellied bzw. -strophe stellt keine Gattung oder Untergattung der Sangspruchdichtung dar, vielmehr handelt es sich um ein Stilmittel, um eine der Argumentationstechniken, mit denen Sangspruchdichter ihre Belehrungen, Beurteilungen (Kritiken) oder Klagen vermittelten.

2. Zum Aufbau der Exempelstrophen: Bezüglich der einstrophigen Lieder in Kanzonenform (s. u.) hat Gustav R OETHE 1887 bereits festgestellt, dass die Sangspruchdichter bestrebt waren, die inhaltliche und die metrische Gliederung in einer Strophe aufeinander abzustimmen. Neben dem markanten Einschnitt zwischen Auf- und Abgesang sind bei der Kanzone aber auch andere metrisch-musikalische Absätze möglich, auf die die Sangspruchdichter beim Formulieren ihrer Texte Rücksicht nehmen konnten. In einer dreiteiligen Kanzonenstrophe, die aus zwei Stollen, die den Aufgesang bilden, und einem Abgesang besteht, gibt es nun die folgenden Varianten:

•  Das Exempel belegt nur den ersten Stollen und wird in dem Rest der Strophe moralisiert (Typ a).
•  Auf die sentenziöse Einleitung im ersten Stollen folgt im zweiten das Exempel, das im Abgesang ausgelegt wird (Typ b).
•  Das Exempel tritt erst im Abgesang auf (Typ c), wobei es auch vorkommt, dass die zu belegende These im ersten Stollen vorgestellt wird und das Exempel den Rest der Strophe füllt.

Oft bilden die letzten Verse semantisch eine Einheit, in die die Auslegung des Exempels fällt, das in den Abgesang hineinreicht. Häufig sind die letzten zwei Verse betroffen, so bei Bruder Werner, Reinmar von Zweter, Konrad von Würzburg und Rumelant von Sachsen; in Kelins Ton III, Boppes Hofton und Kanzlers Ton XVI sind es die letzten vier Verse. Gelegentlich greifen Autoren in diesem Schlussteil stichwortartig auf das Exempel zurück oder fügen ein neues Bild hinzu, um die Moral noch besser zu veranschaulichen oder ihren Forderungen oder Mahnungen Nachdruck zu verleihen.

3. Bei den seit ca. 1275 auftretenden mehrstrophigen Exempelliedern fallen die zweistrophigen Lieder besonders auf, in denen das Exempel die erste und die Auslegung die zweite Strophe füllt. Beispiele hierfür finden sich bei Alexander, dem Meißner, Rumelant, Frauenlob, dem Goldener und Wizlav. Diese Lieder kann man als Vorläufer der späteren Bare betrachten. Schon vor 1350 kommen Exempellieder vor, die aus drei (Alexander und Rumelant) oder gar aus fünf (Alexander und Guter) Strophen bestehen. Bei Heinrich von Mügeln bald nach 1350 ist die Bar-Bildung dann die Regel. Er hat in seinen Liedern zahlreiche Exempel benutzt – die meisten dieser Lieder sind dreistrophig. Bei späteren Liederdichtern, wie Michel Beheim und Hans Folz – um hier nur zwei Beispiele aus dem späteren Mittelalter zu nennen – finden sich auch viele Exempellieder ausschließlich in mehreren Strophen. Das Phänomen des Exempelgebrauchs in strophischer Form lässt sich bis zu den stadtbürgerlichen Meistersängern weiter verfolgen.

4. Der Übergang vom Exempel zur Auslegung wird bei den Exempelliedern in der Regel durch ein funktionales Merkmal gekennzeichnet. Die Variation solcher Übergänge ist vielfältig. Im Folgenden stelle ich nur die häufigen Typen heraus:

•  Gelegentlich machen die Dichter das Publikum mit direkter Anrede auf die Nutzanwendung aufmerksam, so z.B. in Wernher 6/3: Her keiser, seht zem vuoz vür (v. 9), Boppe 1/6: sich, junger man, daz tiutet dich (v. 11), Marner 6/12: ir werden fürsten, merkent wol an disen list (v. 12).
•  Auch durch explizite Hinweise darauf, dass es sich hier um ein Exempel handelt, kann die Ausdeutung eingeführt werden, wie z.B. in Reinmar von Zweter/1/201: Diz bîspel tumben man al hie betiutet (v. 7), Wernher 4/7: ditz bîspel lege ich mir und tumben liuten vür (v. 9), Wernher 6/3: daz sult ir vür ein bîspel emphân (v. 10), Marner 6/13: diz bîspel kumt nû den ze mâzen (v. 13) und ähnlich.
•  Manchmal genügt eine Vergleichspartikel, , sus , alsô oder alsam , um den Beginn der Auslegung zu signalisieren.
•  Folgende Eingänge deuten öfters eine allegorische Auslegung an: Boppe 1/7: dem gelîche ich einen boesen man (v. 13), Boppe 1/26: dar zuo gelîch ich einen man (v. 16), Wernher 2/7: dem dinge tuot ein schlac gelîche (v. 11), Frauenlob 4/6: Daz vaz daz ist geliche / dem firmament mit ebener kraft (v. 13).

Die Dichter gehen aber auch ohne jegliche Signale direkt auf die Auslegung bzw. Nutzanwendung des Exempels über.

6. Zuletzt komme ich auf die Anordnung der Exempellieder nach ihren Nutzanwendungen zu sprechen. Da T ESCHNER diese Arbeit zum Teil bereits geleistet hat und in meinen Ausführungen auch direkt oder indirekt davon die Rede ist, stelle ich diese inhaltlichen Kategorien der Exempellieder nur in einer Tabelle dar und gebe keine Beispiele mehr dazu:

Exempellieder mit weltlicher Moral

- politisch-zeitgeschichtliche Kritik und Lob

- allgemeine Herrenlehre

- allgemeine Tugendlehre

- Dichterklage

- Polemik

- die Dichtkunst betreffend

Exempellieder mit geistlicher Moral

- heilsgeschichtlich

- kirchenpolitisch

- religiös-erbaulich

 

Diese Tabelle lässt erkennen, dass Exempel in allen Themenbereichen der Sangspruchdichtung zu finden sind.